KUNST IN CHRIST-KÖNIG

 

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Einführung


Für Christ-König beginnt mit dem heutigen Tag und für die Dauer des gesamten Kulturhauptstadtjahres 2010 ein neues Kapitel seiner Geschichte: Der Kirchenraum wird zum Kunstraum. 77 Jahre nach Erbauung und konstanter Nutzung ist die Bestimmung als Gotteshaus nach wie vor gegenwärtig, wenn Künstlerinnen und Künstler aus ganz unterschiedlichen Bereichen sich in ihren Werken mit dem Raum sinnlich auseinandersetzen, um ihn dann - dem Motto "Wandlung" entsprechend - als Schauplatz, Spielstätte, Aktionsort, als Hörsaal, Konzertraum, Bühne, Kulisse, auch als Herberge wahrzunehmen.

Den Auftakt bildet die Installation HIMMELSBLAU, eine aus zwei Teilen bestehende Arbeit, konzipiert von Inge Brune und akzentuiert mit einer Projektion von Benjamin Fleig. Schon beim Eintreten bietet sich dem Betrachter ein ungewöhnlicher Anblick: ein Kirchenraum von imposanter Größe und eine Intervention mit polarer Ausrichtung.

Die Architektur, baugeschichtlich dem Typ Basilika mit hohem Mittel- und niedrigeren Seitenschiffen zugehörig - wobei es sich hier eher um Seitengänge handelt - sowie mit drei- bzw. zweizonigem Wandaufriß mit Arkadenzone - Emporen - Obergaden, variiert ein traditionelles Schema des abendländischen Kirchenbaus, wenngleich in überaus puristischem Zuschnitt. Dabei mag die Zurückhaltung in der Ausgestaltung auch das Armutsideal der Franziskaner widerspiegeln, als deren Klosterkirche Christ-König jahrzehntelang fungierte, doch existieren auch Anzeichen dafür, die den Bau als "Dokument seiner Zeit", als Architektur der 1930er Jahre ausweisen. Dazu zählen nicht nur die regional typische Favorisierung der
Klinkerbauweise im Außenbau, sondern die speziellen Proportionen und die Vorliebe für Stufen, um den Eindruck von Größe und Monumentalität zu betonen, "zeitbedingte Zuschläge", die beispielsweise auch für das Bochumer Bergbaumuseum und das Münchner "Haus der Kunst" gelten. Besonders der Altarraum auf einem mächtigen, keineswegs kryptabedingtem Stufensockel zeigt die charakteristische Tendenz der Überhöhung, dem die Relevanz der Wirkung bis heute erliegt.

Auf diesen Raumteil, der damit verbundenen Vorgabe und einer geradezu idealen Präsentationsform hat Inge Brune den zentralen Part ihrer Installation konzentriert. Lichtblaue, transparente Buchstaben aus Plexiglas hängen von der Decke und schweben in unterschiedlicher Höhe im einstigen Altarraum. Scheinwerferlicht projeziert verschiedenfarbige Schattenbilder auf eine weiße Kreuzesfläche von immenser Größe, intensiviert die Aussage, die sich um ein spielerisches Kombinieren der Buchstaben zum Motto "message from the sky" dreht. Zugrunde liegt der Konzeption ein Zitat des Thomas von Aquin: "Das spielerische Tun zielt nicht auf ein anderes, sondern es wird um seiner selbst willen gesucht."

Im Einklang mit dieser Aussage stellt die Künstlerin ein Werk vor, das als visueller Gegenentwurf zu einer grassierenden Zeiterscheinung aufzufassen ist, den Optimierungszwang. In einer leistungsorientierten Gesellschaft zählt allein der Erfolg, er ist Maßstab allen Handelns, dessen Errungenschaft von steter Optimierung geprägt ist. Ihr unterliegen nahezu alle Bereiche des Lebens, ob in der Arbeitswelt oder im Freizeitverhalten - ich nenne nur die Stichworte Effizienz und Maximierung -, dem Drang nach Perfektion hat sich beinahe alles unterzuordnen.

Dagegen wendet sich Inge Brune, eine Künstlerin aus Bochum, die sich dezidiert mit aktuellen Fragestellungen auseinandersetzt, in einer zeitkritischen Position, ästhetisch genuin Inhalt und Form miteinander verbindend: in einem kinetischen Objekt, einem Ensemble aus Buchstaben, die sich tänzerisch bewegen und von frappierender Leichtigkeit erscheinen. Mit Bedacht geht sie auf Kategorien der Kindheit zurück, wählt sie Buchstaben, die Bausteine der Sprache, um sie als Bestandteile einer Kunstform nahezu choreografisch auftreten zu lassen. Lautlos, einzig von der Luft in Bewegung versetzt und gehalten, vollführen sie vor unseren Augen ein auf sich konzentriertes Schauspiel von suggestiver Anziehungskraft. Wie in Kindertagen kann sich der Betrachter dem Staunen und der Faszination eines solchen Eindrucks kaum entziehen, er folgt seiner Neugier und dem Impuls des Entschlüsselns, setzt Buchstaben zu Worten zusammen, spürt also Primärerfahrungen nach, die zugleich auch Basiselemente eines Werkes sind, dessen Schlichtheit genauem Kalkül und subtilem Formgespür entspringt.
Schweinwerfer verstärken die optische Impression, vervielfältigen die Präsenz der Buchstaben, fächern die Palette der Farben auf vom Blau über Grau bis hin zu leuchtendem Weiß.

Auf das Spiel, das zweckfreie, absichtslose Tun - wie es im Zitat des Thomas von Aquin heißt - zielt die gesamte Gestaltung, in ihr bündeln und verdichten sich künstlerische Strategien und Ausdrucksmittel. Mit dem Zusatz "Plädoyer gegen Perfektion" bekräftigt die Künstlerin diesen Anspruch, um eindringlich an ein spielerisches "sich - Welt - aneignen", an die Kreativität, zu appellieren.

Im Motto "message from the sky" artikuliert sich klar und deutlich noch eine andere, außerhalb menschlicher Einflussnahme liegende Botschaft, die Welt des Göttlichen. Projeziert auf die Fläche eines monumentalen Kreuzes, dem Symbol christlichen Glaubens und einem elementaren Formprinzip der Kunst, wird diese Relation unmissverständlich visualisiert. Dieses Kreuz ist ebenfalls Bestandteil der Installation, es ist eigens angefertigt worden, einerseits um als Hintergrundsfolie der Botschaft zu dienen, andererseits um die riesige Dornenkrone aus Metall zu verhüllen, die den verdeckten Altar überkrönt. Formal und farblich bindet sich das Kreuz harmonisch in den Kontext ein, es korrespondiert im Flächenbezug zu den hellen Wandflächen des Sakralraumes, während das verhaltene und zarte Bewegungsspiel der Buchstaben die Strenge der Architektur aufbricht.

Ort und Platzierung haben sich nicht zufällig oder willkürlich ergeben, sondern erst das Zusammenwirken von Raum und Werk, die Reverenz an die Vorgabe und ein auf das Geistige konzentriertes Schaffen, machen HIMMELSBLAU zu einer eindrucksvollen Erscheinung. Dabei spielt das Licht eine nicht geringe Rolle, im permanenten Wechsel von Sein und Schein entwickeln sich neue Konstellationen, formieren sich Buchstaben zu Begriffen und Kürzeln von umfassender Tragweite wie etwa "A" und "E" - Anfang und Ende - ; es entstehen aber auch Analogien zu Platons berühmten "Höhlengleichnis".

Die Dimension des Spirituellen bildet ein wesentliches Element des Werkes, sie wird ausdrücklich benannt, lokalisiert und farblich sowie formal als darstellbare Möglichkeit gesucht. Wohl wissend, dass das Transzendente immateriell und gegenstandslos ist, hat die Künstlerin mit dem Werkstoff - transparentem Plexiglas - wie auch der Farbe Blau Ausrucksmittel gewählt, die diese Aussage affirmieren und adäquat umsetzen.

Unmittelbar nach dem Betreten des Sakralraumes orientieren sich Blick- und Schrittführung auf diesen Teil des Kirchenschiffes hin, der einstige Altarbereich ist zur Bühne meditativen Erlebens geworden. Abseits ausgetretener Wege abgelaufener Ikonografien vermittelt die Installation einen überraschend neuen und aktuellen Zugang zur Welt des Geistigen
in der Option, dass zum Ganzen wahrnehmbarer Realität noch die nichtwahrnehmbare des Transzendenten hinzukomme. Mit dieser Offenbarung präsentiert HIMMELSBLAU nicht nur die Materialisation einer religiösen Gewissheit, dass der Mensch nur von hier aus sein Maß gewinne, das über das Alltägliche und Erfahrbare hinausreiche, um ihm eine Perspektive über alles Erfahrbare zu eröffnen. In diesem Perspektivwechsel erfüllt die Kunst eine vielschichtige Aufgabe, nicht nur als Impulsgeber, sondern auch als Vermittler und als Medium - so wie sich hier in Christ-König zeitgenössische Kunst und Sakralraum in schönster Allianz verbinden.

Kontrastierend zur Dimension des Geistigen im Osten hat der belgische Videokünstler Benjamin Fleig im Westen einen Gegenpol zu HIMMELSBLAU thematisiert. Unmittelbar von der Orgeltribüne herab hängt eine papierne Folie, auf die Bilder des Himmels, in filmischer Sequenz projeziert werden, Bilder, die sich den Sehgewohnheiten des Betrachters annähern und Ausschnitte vom Himmel in all seiner Mannigfaltigkeit zeigen: Wolken in ihrer schwerelosen Substanz fliegen vorbei, transformieren sich zu Skulpturen wechselnder Gestalt, sind - gefilmt von einem hohen Aussichtspunkt aus - in kontinuierlicher Veränderung erfasst, im Fluss der Bilder allerdings bewusst verfremdet. Diese Einheit von Formen und Farben durchläuft ein rhythmisch sich wiederholender Störstreifen, augenscheinlich um die Perfektion zu perforieren.

In der dialektischen Spannung beider Teile von HIMMELSBLAU - der geistigen Dimension im Osten sowie der konkreten Bildlichkeit im Westen, der Kontemplation einerseits und dem Reiz der Bilder andererseits, der Gegenüberstellung von Innen- und Außensicht - eröffnen sich Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Reflexionsprozessen der Installation wie auch Möglichkeiten sich individuell auf eigene Assoziationen einzulassen. HIMMELSBLAU ist mehr als eine Metapher, es ist mehr als ein physikalisches Phänomen - darüber können Sie sich informieren, wenn Sie im Internet die Suchmaschine ‚google' nach "Himmelsblau" durchforsten! -, es ist nicht "himmelblau", es ist der Titel eines Werkes mit heterogenen Aspekten.

Das Thema "Wandlung" - leitmotivisch wie ein roter Faden die verschiedenen Eingriffe in den Kirchen-Kunst-Raum durchziehend -, ist in einer polaren Darstellung anschaulich geworden - mit konträren Positionen und komplexen Bezügen. Mögen Sie als Besucher und Betrachter intensiv die Gelegenheit nutzen, diese temporäre Wandlung von Christ-König - eines sich von jetzt an vier Wochen lang hier präsentierenden Ereignisses - wahrzunehmen. Dazu kann ich Sie nur herzlich auffordern!

Dr. Elisabeth Kessler-Slotta



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